Kritik an Großeinrichtungen

Die Debatte ist überfällig: Jugendliche und Helfer kritisieren die Zustände in den Großeinrichtungen

Diese Zeichnung von Mojtaba trägt den Titel Jeden Tag Döner - mag ich nicht. 


Diskussionsrunde im Kapitel 8

Heiß her ging am Donnerstagabend bei meiner ersten Podiumsdiskussion im Kapitelhaus... Vielen Dank an die Teilnehmer*innen, die eine spannende und kontroverse Diskussion ermöglicht haben, an den Weser Kurier für die Berichterstattung heute und vor allem an die Jugendlichen, die mir im Vorfeld in Interviews von sich und ihren Wünschen und Sorgen berichtet haben.

 

Hier Aussagen von Jugendlichen, die ich befragt habe:

 

Zur Betreuungssituation

  •  Sie sagen immer „du musst warten“ – wenn ich in Deutschland meine Probleme sage, bekomme ich immer diese Antwort: „Ja, du musst warten, du musst warten“. Aber das Problem ist, ich weiß nicht, bis wann. 

  • Wir haben nicht so viel Kontakt, ich sehe meinen Betreuer vielleicht ein- oder zweimal die Woche. Ich habe keine Ahnung, was sie so machen. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich schon zu meinem Betreuer, ein- oder zweimal, aber wenn nichts passiert, dann höre ich auf.

  • Wenn ich Probleme habe, bespreche ich das mit meiner Mentorin. Sie ist auch meine Vormünderin.  Sie hilft mir bei allem.

 

Zu den Lebensbedingungen

  • Die Küche ist sehr schmutzig und die Toilette ist auch sehr schmutzig und das gefällt mir nicht. Ich glaube, niemand ist damit zufrieden. Wir müssen selber putzen, jeden Tag ist ein Junge dran: Zuerst nehmen sie 5 Euro von unserem Taschengeld und dann bekommen wir das wieder. Aber das Putzen klappt nicht, es ist trotzdem schmutzig.

  • Einmal habe ich mit meiner Casemanagerin darüber gesprochen, wie schmutzig es in meinem Wohnheim ist und meine Casemanagerin hat auch mit dem Chef vom Wohnheim gesprochen und der hat gesagt, er macht einen Plan und dann wird alles sauber sein. Aber er hat nichts gemacht.

  • Jeden Tag Döner – mag ich nicht.

Katharina Mild

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Sara Sundermann über die Kritik an den Großeinrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Weser Kurier 24.03.2017)
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Fotos von der Veranstaltung am 23.03.17

Von Glückspilzen und Pechvögeln - ein Kommentar

Katharina Mild hat ein riesengroßes Lob verdient. Sie hat die überfällige Debatte über die Qualität der pädagogischen Arbeit in den Bremer Hotels, Häusern, Wohngruppen, in denen junge Geflüchtete nach den gesetzlichen Vorgaben der Kinder- und Jugendhilfe leben, angestoßen. Ihrer Initiative verdanken wir es, dass dieses Thema den Weg in die breite Öffentlichkeit gefunden hat. Hier ein Meinungsbeitrag von Detlev Busche.


 

Wenn man so will, ist Jamshid ein Glückspilz. Der junge Afghane lebt mit sieben anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in einer ganz normalen Wohngruppe in Borgfeld. Er hat selbstverständlich ein eigenes Zimmer – das ist in Deutschland seit mehr als 25 Jahren Standard für die stationären Wohnformen. Er bekommt wie die anderen Mitbewohner mittags nach der Schule eine warme Mahlzeit, serviert von der Hauswirtschafterin. Auch das ist eine Grundleistung. Und abends kocht Jamshid selbst, meist gemeinsam mit ein oder zwei anderen Jungs. Abwasch, Küche sauber halten, die Bäder, das eigene Zimmer selbstverständlich auch, den Großeinkauf für die Gruppe übernehmen, Rasenmähen, Gartenpflege, Frühjahrsputz, das alles steht auf dem Programm der Jungs. Jamshid bekommt Zuwendung, bei den Schularbeiten, beim Deutsch lernen. Er kann sich auf sein Zimmer zurückziehen, wann immer er will. Wenn er einen Kumpel aus einer anderen Einrichtung einladen möchte bei ihm das Wochenende zu verbringen, kann er das mit den Betreuern abklären. Dafür gibt es Regeln, die in der gemeinsamen wöchentlichen Sitzung immer wieder besprochen werden. Also ein Gast, in Ausnahmefällen auch mal ein zweiter.

Die Nachbarn, der Postbote, Rewe, Aldi, Lidl, Jamshid kennt sich aus in seinem Kiez. Zwar stöhnt er manchmal, dass der Weg zur Haltestelle weit ist. Mit einem Augenzwinkern und einem breiten Grinsen relativiert er diesen kleinen Minuspunkt. „Mit dem Fahrrad packe ich das in wenigen Minuten.“ Wenn man ihn fragt, was ihn richtig stört, dann kommt wie aus der Pistole geschossen diese Antwort: „Ich muss von Borgfeld bis nach Vegesack fahren, weil dort meine Schule ist. Kannst Du Dir das vorstellen? Jeden Tag über eine Stunde hin, und zurück nochmal eine Stunde! “  

Dieser kurze Einblick in Jamshids Alltag muss reichen. Und unser Befund bedarf einer Korrektur. Der junge Mann ist kein Glückspilz. Er bekommt die reguläre Leistung, und zwar nach dem Gesetz und nach den für Bremen geltenden Leistungsbeschreibungen.

 

Szenen- und Ortswechsel. Hotel Horner Eiche, am Autobahnzubringer gelegen. Kapazität: 100 Plätze. Die aktuell vereinbarte Belegung ist auf etwa 70 reduziert. Tamem und sein Cousin Massi leben seit Februar 2016 in dieser Großeinrichtung. Das Essen dort kommt vom Caterer. Die Jungs können sich nichts selber zubereiten. Tamem und Massi sind leidenschaftliche Thai-Boxer, laut Trainer und Betreuer ganz große Talente. Sie treten bei den Meisterschaften ihres Verbandes an, trainieren fünfmal in der Woche, montags bis freitags immer von 18 bis 20 Uhr im Leon Fight Club 12 am Hohweg. Wenn sie nach dem Training zurück ins Hotel kommen, gibt es für sie in der Regel keine Chance auf eine warme – aufgewärmte – Mahlzeit. Stattdessen drücken ihnen die Betreuer je einen Essengutschein für den Döner Am Dobben in die Hand. Dann fahren sie zum Dobben, lösen die Gutscheine ein. Mehrmals in der Woche zum Döner. Für die beiden Leistungssportler genau die falsche Ernährung. Ein Armutszeugnis für das Hotel Horner Eiche,  eine Einrichtung, die einem Ex-Boxer gehört, der sich bundesweit mit seinem auf sportliche Aktivitäten fokussierten Ansatz zu profilieren versucht.

 

Auch das ist Jugendhilfe in Bremen. Die gesetzliche Grundlage ist die gleiche wie im Fall der Borgfelder Wohngruppe. Zum Nachlesen: Sozialgesetzbuch 8, Paragraf 34. Und die Leistungsbeschreibung für die Einrichtung „Horner Eiche“ (Träger: Akademie Lothar Kannenberg) unterscheidet sich kaum von derjenigen der kleinen Wohngruppe (Träger: Alten Eichen gGmbH). Übrigens: Wer nun meint, dass sich die unterschiedlichen Leistungen im Preis, im so genannten täglichen Entgelt widerspiegeln, der irrt. Das Entgelt ist in etwa gleich - egal ob die Jugendlichen im Einzel- oder im Doppelzimmer untergebracht werden, egal ob eine Hauswirtschaftskraft frisch kocht, die Bewohner ihre Malzeiten auch selbst zubereiten können oder das Essen über einen Caterer angeliefert wird. 

 

Bei 70 jungen Menschen, zentraler Versorgung durch einen Caterer, bei Doppelzimmern, bei einer Security, die alles im Blick haben muss, bei der Notwendigkeit viele Regeln aufzustellen (wie z.B. diese Regel: Wer mehr als 30 Minuten nach der Abendessenzeit kommt, ist gelackmeiert) kann qualitativ nicht viel mehr herausspringen. Fachleute der Heimerziehung wissen, dass aus Masse eben keine Klasse entsteht. Eine pädagogische Qualität entwickelt sich in kleinen, überschaubaren Wohneinheiten, nicht in Hotels, die ihre beste Zeit längst hinter sich haben.

 

Den Alltag von Tamem und Massi ausführlich zu schildern, sprengt den Rahmen dieser kleinen Einlassung. Vielleicht reicht es darauf hinzuweisen, dass beide seit vielen Monaten auf eine andere Unterkunft hoffen, auf eine eigene Wohnung oder eine kleine Einrichtung wie die, in der ihr afghanischer Kumpel Jamshid lebt. Tamem und Massi, sie gehören zu den Pechvögeln (und das sind immer noch die meisten der in Bremen untergebrachten jungen Flüchtlinge). Ach ja, noch etwas: Das Hotel Horner Eiche ist noch bis Ende 2028 angemietet. 

 

Wie die vielen anderen Freiwilligen vom Runden Tisch bekomme auch ich von Jugendlichen, die in der Sporthalle untergebracht waren, nahezu täglich WhatsApp-Nachrichten, SMS oder kurze Anrufe mit konkreten Anliegen, mit Kritik an den Zuständen, mit Kritik an den Betreuern, mit Kritik an den vielen Warteschleifen. Viele junge Geflüchteten sind frustriert, einige von ihnen regelrecht verzweifelt. Bei ihnen ist zu spüren, dass die Hoffnung anzukommen Stück für Stück schwindet.

 

Noch ist Zeit für eine realistische Bestandsaufnahme und für Kurskorrekturen. Diese Debatte sollte offen und ehrlich geführt werden. Und sie sollte die Jugendlichen einbeziehen. Sie müssen gehört werden. Sie müssen mitentscheiden. Und die Zivilgesellschaft, vertreten durch die immer noch zahlreichen Volunteers in der Flüchtlingshilfe, sie muss sich einmischen.

 

Detlev Busche