Von Glückspilzen und Pechvögeln

25.03.2017

Wenn man so will, ist Jamshid ein Glückspilz. Der junge Afghane lebt mit sieben anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in einer ganz normalen Wohngruppe in Borgfeld. Er hat selbstverständlich ein eigenes Zimmer – das ist in Deutschland seit mehr als 25 Jahren Standard für die stationären Wohnformen. Er bekommt wie die anderen Mitbewohner mittags nach der Schule eine warme Mahlzeit, serviert von der Hauswirtschafterin. Auch das ist eine Grundleistung. Und abends kocht Jamshid selbst, meist gemeinsam mit ein oder zwei anderen Jungs. Abwasch, Küche sauber halten, das eigene Zimmer ebenfalls, Einkauf für die Gruppe, Rasenmähen, Gartenpflege, Frühjahrsputz, das alles steht auf dem Programm der Jungs. Jamshid bekommt Zuwendung, bei den Schularbeiten, beim Deutsch lernen. Wenn er einen Kumpel aus einer anderen Einrichtung einladen möchte, das Wochenende in der Gruppe zu verbringen, dann kann er das mit den Betreuern abklären. Dafür gibt es Regeln, die in der gemeinsamen wöchentlichen Sitzung immer wieder besprochen werden. Also ein Gast, in Ausnahmefällen auch mal ein Zweiter. Die Nachbarn, der Postbote, Rewe, Aldi, Lidl, Jamshid kennt sich aus in seinem Kiez. Zwar stöhnt er manchmal, dass der Weg zur Haltestelle weit ist. Mit einem Augenzwinkern und einem breiten Grinsen relativiert er diesen kleinen Minuspunkt. „Mit dem Fahrrad packe ich das in wenigen Minuten.“ Wenn man ihn fragt, was ihn richtig stört, dann kommt wie aus der Pistole geschossen diese Antwort: „Ich muss von Borgfeld bis nach Vegesack fahren, weil dort meine Schule ist. Kannst Du Dir das vorstellen? Jeden Tag über eine Stunde hin, und zurück nochmal eine Stunde! “  

Dieser kurze Einblick in Jamshids Alltag muss reichen. Und unser Befund bedarf einer Korrektur. Der junge Mann ist kein Glückspilz. Er bekommt die reguläre Leistung, und zwar nach dem Gesetz und nach den für Bremen geltenden Leistungsbeschreibungen.

 

Szenen- und Ortswechsel. Hotel Horner Eiche, am Autobahnzubringer gelegen. Kapazität: 100 Plätze. Die aktuell vereinbarte Belegung ist auf etwa 70 reduziert. Tamem und sein Cousin Massi leben seit Februar 2016 in dieser Großeinrichtung. Das Essen dort kommt vom Caterer. Die Jungs können sich nichts selber zubereiten. Tamem und Massi sind leidenschaftliche Thai-Boxer, laut Trainer und Betreuer ganz große Talente. Sie treten bei den Meisterschaften ihres Verbandes an, trainieren fünfmal in der Woche, montags bis freitags immer von 18 bis 20 Uhr im Leon Fight Club 12 am Hohweg. Wenn sie nach dem Training zurück ins Hotel kommen, gibt es für sie in der Regel keine Chance auf eine warme – aufgewärmte – Mahlzeit. Stattdessen drücken ihnen die Betreuer je einen Essengutschein für den Döner Am Dobben in die Hand. Dann fahren sie zum Dobben, lösen die Gutscheine ein. Mehrmals in der Woche zum Döner. Für die beiden Leistungssportler genau die falsche Ernährung. Ein Armutszeugnis für die Horner Eiche,  einer Einrichtung, die einem Ex-Boxer gehört, der bundesweit auf seinen ganz eigenen Ansatz hinweist. Auch das ist Jugendhilfe in Bremen. Die gesetzliche Grundlage ist die gleiche wie im Fall der Borgfelder Wohngruppe. Zum Nachlesen: Sozialgesetzbuch 8, Paragraf 34. Und die Leistungsbeschreibung für die Einrichtung „Horner Eiche“ (Träger: Akademie Lothar Kannenberg) unterscheidet sich kaum von derjenigen der kleinen Wohngruppe (Träger: Alten Eichen gGmbH). Übrigens: Wer nun meint, dass sich die unterschiedlichen Leistungen im Preis, im so genannten täglichen Entgelt widerspiegeln, der irrt. Der interessierte Laie kann von ähnlichen Beträgen ausgehen.

 

Bei 70 jungen Menschen, zentraler Versorgung durch einen Caterer, bei Doppelzimmern, bei einer Security, die alles im Blick haben muss, bei der Notwendigkeit viele Regeln aufzustellen (wie z.B. diese Regel: Wer mehr als 30 Minuten nach der Abendessenzeit kommt, ist gelackmeiert) kann qualitativ nicht viel mehr herausspringen. Fachleute der Heimerziehung wissen, dass mit Masse eben keine Klasse, keine individuelle Hilfe für jeden Einzelnen erreicht werden kann.

 

Den Alltag von Tamem und Massi ausführlich zu schildern, sprengt den Rahmen dieser kleinen Einlassung. Vielleicht reicht es darauf hinzuweisen, dass beide seit vielen Monaten auf eine andere Unterkunft hoffen, auf eine eigene Wohnung oder eine kleine Einrichtung wie die, in der ihr afghanischer Kumpel Jamshid lebt. Tamem und Massi, sie gehören zu den Pechvögeln (und das sind immer noch die meisten der in Bremen untergebrachten jungen Flüchtlinge). Ach ja, noch etwas: Das Hotel Horner Eiche ist noch bis Ende 2028 angemietet. 

 

Wie die vielen anderen Freiwilligen vom Runden Tisch bekomme auch ich von Jugendlichen, die in der Sporthalle untergebracht waren, nahezu täglich WhatsApp-Nachrichten, SMS oder kurze Anrufe mit konkreten Anliegen, mit Kritik an den Zuständen, mit Kritik an den Betreuern, mit Kritik an den vielen Warteschleifen. Und manchmal, im persönlichen Gespräch, ist zu spüren, dass sie verzweifelt sind, dass ihre Hoffnung hier ankommen zu können, scheibchenweise schwinden.

 

Noch ist Zeit für eine ehrliche, realistische Bestandsaufnahme und für Kurskorrekturen. Auf die Verabreichung von weichspülenden Beruhigungstropfen sollten wir verzichten. Und vor allem: Die Jugendlichen sind Subjekte in diesem Prozess, keine anonyme Verhandlungsmasse. Sie müssen gehört werden. Sie müssen mitentscheiden. Und die Zivilgesellschaft, vertreten durch die immer noch zahlreichen Volunteers in der Flüchtlingshilfe, sie muss sich einmischen.

 

Detlev Busche

11.11.2016

"In jedem von uns steckt ein Flüchtling"

18 Monate Runder Tisch - Eine Zwischenbilanz von Hermann Vinke

 „In jedem von uns steckt ein Flüchtling.“ Dieser Satz meines Freundes und Rundfunkkollegen Rupert Neudeck, der im Sommer bei einer Herzoperation 77jährig verstarb, kam mir dieser Tage wieder in den Sinn, als ich an einem Text zum Volkstrauertag 2016 arbeitete. Neudecks Weg als „Schutzengel der Flüchtlinge“, wie die Süddeutsche Zeitung ihn in einem Nachruf nannte, habe ich über viele Jahre mit verfolgt. Als Moderator auf NDR 2 holte ich ihn oft in die Magazinsendungen,  damit er im Interview sein Flüchtlingsprojekt vorstellen konnte. Das war die Zeit, als er sein „Schiff für Vietnam“ startete, woraus dann die Hilfsorganisation mit dem gleichnamigen Rettungsschiff Cap Anamur wurde.

Später besuchte ich als Reporter ein Flüchtlingslager im Grenzgebiet zwischen Thailand und Kambodscha, wo Ärzte und Krankenschwestern der „Cap Anamur“ sich um Flüchtlinge aus Kambodscha und Vietnam kümmerten. Schließlich erlebte ich auf der südphilippinischen Insel Palawan, wie vietnamesische Boat People, die zuvor aus dem Südchinesischen Meer gerettet worden waren, an Land gingen.

 Zum letzten Mal traf ich Neudeck im Juli 2013, und zwar in dem „ungewöhnlichsten Wohnzimmer der Republik“, wie die SZ anmerkte, also in seinem Haus in Troisdorf bei Bonn. Dieses Wohnzimmer war das Hauptquartier der beiden Hilfsorganisationen, die Neudeck gründete, Cap Anamur und später Grünhelme. Wir sprachen über seine zahlreichen Projekte in Asien, Afrika und Südosteuropa, auch über seine eigene Flucht als Sechsjähriger aus Danzig.

Für mich bleibt Rupert Neudeck ein Vorbild – auch für die Flüchtlingsarbeit, die wir seit eineinhalb Jahren hier in Borgfeld leisten. Dass die Aufnahme von unbegleiteten Jugendlichen aus Syrien, Afghanistan sowie aus afrikanischen Ländern mit Schwierigkeiten und Problemen verbunden sein würde und dass nicht alle Einwohner Borgfelds die jungen Männer aus der Fremde willkommen heißen würden, das von Anfang an klar und zum Teil auch verständlich.

Aber es ist uns, denke ich, ziemlich schnell gelungen, Ablehnung und Antistimmung zu überwinden und Einwohner zu gewinnen, die bereit waren, den Jugendlichen offen, freundlich und hilfsbereit zu begegnen.

Auch im Nachhinein erstaunt es mich, wie viele es waren, die nicht nur mitmachten, sondern gute Ideen und erfolgreiche Projekte entwickelten, um den Jugendlichen das Einleben zu erleichtern. Krisen und Rückschläge gab es mehrfach. Die absprachewidrige vorfristige Schließung der Sporthalle Am Saatland war die erste große Herausforderung, die der Runde Tisch zu bewältigen hatte.

Die Weigerung des Amtes für Soziales, uns – vom Borgfelder Beirat einhellig unterstützt und beantragt – eine Stelle zur Koordinierung unserer vielfältigen Aktivitäten zur Verfügung zu stellen, verschärfte noch die Situation. Eine großzügige Spende des Lions Club Bremen-Wümme half uns über schwierige Monate hinweg, bis schließlich Insa Bertram von der Diakonischen Jugendhilfe Bremen die Koordinierung übernahm.

Zeitweise schien es, die Sozialbehörde würde uns als Partner bei dem Bemühen ansehen, die Integration von jugendlichen Flüchtlingen in unserem Stadtteil voranzubringen. Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. Vom Amt für Soziales ist der Runde Tisch Borgfeld in keiner Weise unterstützt worden. Nicht einmal der Informationsaustausch, obwohl immer wieder angemahnt, hat geklappt.

Als einen Rückschlag betrachte ich auch die Mehrheitsentscheidungen des Borgfelder Beirates vom September, mit denen die Einrichtungen Warft und Hein Heuer infrage gestellt wurden. Das war ein Affront gegen das ehrenamtliche Engagement in Borgfeld, das doch allseits auf Anerkennung stieß, nicht zuletzt auch beim Beirat. Deswegen ist zu wünschen, dass das örtliche Parlament einer Verlängerung der Warft um zwei Jahre keine Steine in den Weg legt und auch an einer Lösung für den Landgasthof Heuer mitwirkt.

Mit der Ev. Kirchengemeinde in Borgfeld ist es bisher nicht zu der Zusammenarbeit gekommen, die Hanns Gunschera und ich uns vorgestellt haben. Der Runde Tisch darf den Unterrichtsraum im Gemeindehaus für Schulung und Koordinierung und den Seminarraum I für seine Sitzungen nutzen. Dafür sind wir dankbar. Die Kirchengemeinde betreibt seit vielen Jahren eine ausgezeichnete Jugendarbeit. Unsere wiederholte Bitte, jugendliche Flüchtlinge in diese Aktivitäten mit einzubeziehen, blieb - von zwei Ansätzen abgesehen - ohne Erfolg. Die Zusammenarbeit mit dem Ortsamt Borgfeld, den beiden Grundschulen und dem TSV Borgfeld hat dagegen gut funktioniert. Für unsere Anliegen finden wir stets ein offenes Ohr.

Das ehrenamtliche Engagement in unserem Stadtteil wird fortgesetzt. Wir werden uns weiterhin um Unterstützung bei den Parteien, Vereinen und Einrichtungen bemühen. Nach meiner Auffassung hat Borgfeld einen eigenen Beitrag zur Unterbringung und Betreuung zu leisten. Der Stadtteil bietet dafür gute Voraussetzungen. Außerdem macht es keinen Sinn, Jugendliche in soziale Brennpunkte, etwa nach Bremen Nord, abzuschieben, wenn hier die Bedingungen für ihre Betreuung gegeben sind.

Abschließend noch ein Hinweis: Beschwerden, verursacht durch das Verhalten von Flüchtlingen, sind wir bisher nachgegangen und werden wir weiter nachgehen. Querulantischer Einzelkritik, die nur auf Stimmungsmache angelegt ist, werden wir jedoch auch künftig entgegentreten.

Stichworte zur Person:  1940 in Rhede/Emsland geboren. Von 1971 bis 1975  Studium (Geschichte u. Soziologie), davor Redakteur für verschiedene Tageszeitungen. Bis 1981 Redakteur beim NDR in Hamburg, anschließend fünf Jahre  ARD -Korrespondent in Tokio. Nächste Station: Washington.  1990 zurück nach Deutschland als Leiter des ARD-Studios Ostdeutschland in Berlin. Von 1992 bis 2000  Hörfunkdirektor bei Radio Bremen. Danach wieder Korrespondent für Mittel- und Osteuropa.

Neben seiner Arbeit als Journalist ist Hermann Vinke auch als Autor zahlreicher Bücher bekannt. Sein erstes Buch, die Biografie von Carl von Ossietzky, erschien 1978. 1980 folgte Das kurze Leben der Sophie Scholl. Hermann Vinke ist einer der wichtigsten deutschen Autoren von Jugendsachbüchern. Er lebt heute als freier Autor in Borgfeld. Zusammen mit Hanns Gunschera ist er Sprecher des Runden Tisches.

(Red.)


16.08.2016

Das Engagement ist nach wie vor da. Aber die Profis müssen sich umstellen.

Ja, es stimmt. In den hiesigen Einrichtungen der Flüchtlingshilfe fehlen freiwillige Helferinnen und Helfer. Die Welle der spontanen Hilfsbereitschaft, die Bremen im Herbst 2015 erfasste, ist mittlerweile abgeebbt. Kathrin Aldenhoff fasst in ihrem Bericht (Weser Kurier vom 15.08.2016) die aktuelle Lage zutreffend zusammen.

Die Gründe für diese Entwicklung bleiben weitgehend ungenannt. Sicher spielen die politischen Entwicklungen der letzten Monate, angefangen von den Ereignissen der Kölner Silvesternacht bis hin zu den Anschlägen von Würzburg, München und Ansbach, eine Rolle. Aber für mich sind es die hausgemachten, lokalen Besonderheiten, die einen entscheidenden Einfluss auf den Rückgang in der Freiwilligenarbeit ausüben. Dazu kurz und knapp zwei Thesen:

 

  • Die Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen Engagement ist unverändert hoch. Im Gegensatz dazu ist die Fähigkeit, Freiwillige in eine gemeinsame Arbeit mit Geflüchteten einzubinden, bei den Profis schwach entwickelt.

Aktuelle Untersuchungen[1] der letzten Monate belegen es: Die Motivation zu helfen, einen praktischen Beitrag zur Integration von Geflüchteten zu leisten, ist bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung unverändert groß. Fakt ist, dass es den Institutionen, die für die Flüchtlingshilfe zuständig sind, nicht gelingt, einen Zugang zu den potenziellen Freiwilligen zu finden. Das hat vor allem mit der Zweiteilung von professioneller und ehrenamtlicher Hilfe zu tun. In der deutschen Sozialarbeit wird immer noch penibel getrennt.

Die „Ehrenamtlichen“ spielen durchaus mit. Als Amateure ist ihr Platz am Spielfeldrand, bestenfalls die Ersatzbank. Die zentrale Rolle nehmen die berufsmäßig tätigen Akteure ein. Sie besitzen den „Alleinvertretungsanspruch“ als die Experten. Für sie sind die „Ehrenamtlichen“ eher schmückendes Beiwerk. In „normalen Zeiten“ könnten die Profis es auch ohne den Support von freiwilligen Helfern schaffen – so das (unausgesprochene) Selbstverständnis. Im Krisenjahr 2015 allerdings ist das professionelle „System“ an seine Grenzen gestoßen.

Und noch etwas hat sich seit dem vergangenen Jahr grundlegend verändert: Die Zivilgesellschaft, jedenfalls in ihrer Mehrheit, hat erkannt, dass sie sich stärker als je zuvor einmischen, die Dinge in die eigenen Hände nehmen muss. Ansonsten droht die Gefahr, dass die staatlichen Strukturen zerbröseln können. Paradigmenwechsel nennt man das. Einfacher ausgedrückt: 2015 hat sich eine Zeitenwende ereignet. Die alten Mechanismen der Zweiteilung von professioneller und freiwilliger Sozialarbeit funktionieren nicht mehr.

Die spannende Frage lautet, wie sich die etablierten Institutionen – Kommunen, Ämter, Wohlfahrtsverbände, freie Träger – auf die neuen Verhältnisse einstellen. Mein persönlicher Eindruck ist: sie tun sich (noch) schwer damit. Viele Verantwortliche und Beschäftigte in der Flüchtlingshilfe möchten jetzt, in Zeiten, in denen sich eine leichte Entspannung andeutet, wieder in ihren normalen Modus zurückschalten.

Jedenfalls ahnen die Profis, dass es anstrengend ist, sich auf Runde Tische, Willkommensinitiativen, erst recht auf viele Einzelkämpfer(innen) einzulassen. Freiwillige einzubeziehen, das setzt zunächst zusätzliche Arbeit, zusätzliches Geld voraus. Den politischen Willen und die notwendigen praktischen Voraussetzungen sehe ich derzeit nicht. Darüber können weder die vielen Verlautbarungen des Hauses Stahmann (die einen hohen Anteil an Weichspülern aufweisen) noch die vereinzelt eingesetzten Koordinatorinnen hinwegtäuschen.

Wirkliche Fortschritte sind möglich, wenn jeder Verantwortliche bei den Trägern der Flüchtlingshilfe es zur „Chefsache“ macht, die Freiwilligen, die jetzt bereits Deutschunterricht, Nachhilfe geben, die Musikangebote machen, die als Mentorinnen, als Alltagsbegleiter, als Vormund, als Box- und Fußballtrainer für die Geflüchteten da sind, wirklich in die Arbeit einzubeziehen. Das setzt erst einmal ganz schnöde voraus, dass in den Einrichtungen die obligatorische Netzwerk-Analyse erstellt wird. Auf deutsch: Namen, Daten, Fakten, besondere 

Fähigkeiten der einzelnen Helfer, die Bezüge zu den Geflüchteten, die Kontaktdaten, das Festhalten von Gesprächen. Ich komme im Bremer Nordosten in einige Häuser, in denen junge Geflüchtete untergebracht sind. Eine systematische Erfassung der „ehrenamtlichen Ressourcen“ habe ich nirgendwo vorgefunden.

Es würde viel helfen, wenn in den Teams die Termine, die die Freiwilligen mit den Geflüchteten vereinbart haben, auf dem „Schirm“ behalten. Jede geplatzte Stunde Deutsch-Nachhilfe, jeder Stadtbummel, der verbummelt, vergessen wird, ist ein kleines Teil im Demotivations-Puzzle, das wohl nicht nur in Borgfeld oder Horn-Lehe gespielt wird.

  • „It’s civil society, stupid“: Für die Integration ist die Bürgergesellschaft verantwortlich. Das professionelle Hilfesystem ist vorübergehend unterstützend tätig.

Ich erzähle eine kleine Geschichte von Tarik. Der 17-jährige Algerier lebt seit einem halben Jahr in einem Hotel in Horn-Lehe. In dieser Zeit hat er nach seiner Zählung vier bis sechs so genannte Bezugsbetreuer gehabt, also Menschen, die sich berufsmäßig besonders intensiv um das Wohl und Wehe von Tarik kümmern sollten. Tarik bekommt nicht einmal sämtliche Vornamen der Bezugsbetreuer zusammen. So viel zum Thema Fluktuation. Und zum Thema Beständigkeit.

Die Menschen, auf die Tarik sich verlassen kann, sind Petra, seine „Hilfslehrerin“ aus der Notunterkunft in Borgfeld (Sporthalle), die ihm immer noch intensiven Nachhilfe-Unterricht gibt, die ihm einen geeigneten Schulplatz in Vegesack vermittelt, dabei viele Stunden am Telefon und im direkten Gespräch mit Behördenvertretern zubringt, Klaus, sein Boxtrainer beim Gröpelinger Verein Tura, der aus Tarik immer mehr Leistung herauskitzelt, der eine ziemlich direkte Form der Ansprache wählt, auf den der Begriff „harte Schale, weicher Kern“ zu 100 Prozent zutrifft. Und als dritte im Bunde ist da Elisabeth als ehrenamtlicher Vormund. Sie ist gerade stunden- und tagelang damit beschäftigt, dem Protokoll der polizeilichen Ersterfassung nachzuspüren, das im Bermuda-Dreieck zwischen Kommissariat 54, Jugendamt und Stadtamt verschollen gegangen ist. Ohne das Protokoll gibt es keinen Antrag auf Duldung, ohne Duldung kann Tarik seinen Berufswunsch Heizungsbauer erst einmal vergessen. Petra, Klaus, Elisabeth, sie werden aller Wahrscheinlichkeit auch nach Beendigung der Jugendhilfe, in drei bis fünf Jahren, die Personen sein, auf die Tarik bauen kann. Wie viele Betreuer er wohl noch haben wird?

Wenn wir es wirklich schaffen sollten, dann nur so. Durch Menschen, die aus der berühmten Mitte der Gesellschaft kommen, die sich kümmern, die sich einlassen auf die Tariks, Alis, Boubarcarrs, Murtezas.  Das offizielle System der Jugendhilfe kann diesen Prozess nur ein Stück weit begleiten, kann in dieser Zeit den Integrationsprozess fördern – wenn es die wahren Akteure in den Mittelpunkt stellt: die Geflüchteten und ihre freiwilligen Helfer.

 

Detlev Busche 

 

 

 

Stichworte zur Person

·      Gelernter Gruppenpädagoge, 12 Jahre Jugendwohngruppe, die ganzen Jahre mit denselben zwei Kolleginnen im Team.  

·      12 Jahre pädagogischer Leiter in Alten Eichen.

·      10 Jahre Leiter der Stiftung Alten Eichen.

·      Seit 2011 Volunteer in der Sozialen Arbeit, seit 2015 beim Runden Tisch Borgfeld, Vormund für einen 17-jährigen Geflüchteten.

·      Oktober 2015 bis Februar 2016 Leiter der Notunterkunft Sporthalle „Am Saatland“ in Borgfeld.

 

·      Seit April 2016 Projektkoordinator im bundesweiten Modellvorhaben „Gastfamilien – Vormundschaften – Patenschaften“, durchgeführt vom Kompetenz-Zentrum Pflegekinder e.V. in Kooperation mit Diakonie Deutschland.


Anmerkungen

[1] Zuletzt: Bertelsmann Stiftung (Hrs.) und Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung: Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen. Berlin/Gütersloh, Juli 2016.

 

"Viele Interviewpartner sagten, dass die Bereitschaft zum Engagement für Flüchtlinge unverändert hoch ausgeprägt sei, wenn auch die Sorge geäußert wurde, dass sich der ‚Stimmungsumschwung‘ auf die Arbeit auswirke. Die Hochkonjunktur zivilgesellschaftlicher Hilfe fand nach Aussage vieler vom September bis Dezember 2015 statt. Seitdem sind viele Engagierte kontinuierlich dabei. In drei Kommunen wurde beschrieben, dass den Freiwilligen ihre Tätigkeit umso wichtiger sei, je mehr Proteste im Umfeld der Unterkünfte stattfanden (Nürnberg, Hannover, Gera). Ein überwiegender Teil der Kommunen verzeichnet einen konstanten Zustrom an Aktiven." (S. 44)

 

Die Abb. 4 (links) ist auf Seite 46

Diese Seite ist für persönliche Beiträge reserviert. Hier können sich die aktiven Helferinnen und Helfer des Runden Tisches äußern, über ihre Erfahrungen in der Arbeit mit den jungen Geflüchteten berichten, von den kleinen Erfolgen, den Lichtblicken ebenso wie von den Pannen, den Unzulänglichkeiten. Und vor allem können sie ihre subjektive Sicht der Dinge schildern.

Selbstverständlich sollen auch die Jugendlichen zu Wort kommen (Bei Minderjährigen muss der Vormund sein o.k. geben). Sie sind die eigentlichen Experten, wenn es um die Frage geht, wie das Ankommen in der deutschen Gesellschaft, in Bremen, in Borgfeld aussieht. Statements von den Professionellen aus den Einrichtungen, von den verantwortlichen Trägervertretern sind ausdrücklich erwünscht. Beiträge (im Word-Format) bitte an die folgende Mailadresse schicken: admin@runder-tisch-borgfeld.de